In der Reihe Tools lernst Du Werkzeuge oder Modelle kennen, die Dir in besonderen Situationen helfen.
Nachdem ich in den letzten Wochen so einige agile Methoden vorgestellt habe, könntest Du auf die Idee kommen, Dich zu fragen, ob "agil" immer der richtige Ansatz sein könnte.
Um das zu beantworten, stelle ich Dir heute ein Modell vor. Das Cynefin Modell. Das ist walisisch und bedeutet ungefähr so etwas wie "Lebensraum". Ausgesprochen wird es ganz anders, als Du auf den ersten Blick vermuten wirst. In etwa so: Kenäfjen.
Ausgedacht hat es sich Dave Snowden vor 20 Jahren: 1999.
Cynefin - Vier Lebensräume
Die Lebensräume beschreiben jeweils Klassen von Situationen, denen wir im Alltag begegnen können. Außerdem wird jedem Lebensraum eine Verhaltensweise zugeordnet. Mit dieser Verhaltensweise kann man den für diesen Lebensraum typischen Situationen in der Regel gut begegnen.
Der einfache Lebensraum
Hier ist ziemlich offensichtlich, was getan werden soll. Du nimmst eine Situation wahr, kannst sofort einordnen womit Du es zu tun hast und machst einfach, was nötig ist.
Du siehst auf dem Bildschirm Deines Smartphones das Symbol einer fast leeren Batterie. Du erkennst sofort, dass der Akku fast leer ist. Also nimmst Du dir das Ladekabel, hängst das Gerät an die
Steckdose und wartest, bis der Akku wieder ausreichend geladen ist.
Der komplizierte Lebensraum
Wie der Name schon vermuten lässt, ist es hier schon weniger übersichtlich. Du nimmst die Situation wahr, siehst aber nicht sofort was zu tun ist. Du musst die Situation zuerst analysieren und kannst dann handeln.
Du willst etwas drucken und der Drucker zeigt eine Fehlermeldung. Leider ist die nicht sehr sprechend. Es ist nur ein Zahlencode. Glücklicherweise fällt Dir beim genauen Hinsehen auf, dass auf dem Display auch ein Hilfesymbol zu sehen ist. Du klickst drauf und erfährst: Die gelbe Tintenpatrone ist leer und muss ausgewechselt werden. Das hast Du noch nie gemacht, aber das ist kein Problem. Im komplizierten Lebensraum kann man jemanden Fragen, der weiß wie es geht oder aber man kann eine Anleitung zu Rate ziehen. Du fragst also Deine Kollegin, die Dir zumindest schon mal verraten kann, wo die Ersatzpatronen liegen und die Dir außerdem erzählt, dass im Schrank unter dem Drucker die Bedienungsanleitung liegt, in der erklärt wird, wie die Patronen gewechselt werden. Du holst also die Ersatzpatrone, befolgst die Anleitung und schon ist das Problem gelöst.
Der komplexe Lebensraum
Hier wird es ein wenig unübersichtlicher. Im komplexen Lebensraum gibt es den einen richtigen Weg zum Ziel nicht. Du musst also erst einmal etwas ausprobieren, nimmst dann wahr, was passiert und handelst auf Basis dessen, was Du wahrgenommen hast. Das kann durchaus mehrere Versuche erfordern, bis das gewünschte Ergebnis erreicht ist.
Ein Kunde gibt Dir den Auftrag, die Inneneinrichtung für seinen neuen Laden zu gestalten. Du machst zunächst einen Entwurf auf Basis dessen, was im Auftragsgespräch vereinbart wurde, zeigst den Entwurf dem Kunden und passt ihn anhand des Feedbacks, das Dir der Kunde gibt an. Eventuell braucht es dafür mehrere Schleifen, bis der Kunde zufrieden ist.
Der chaotische Lebensraum
Hier ist schnelles und entschlossenes Handeln angesagt. Für vorsichtiges Ausprobieren ist die Situation nicht geeignet. Im chaotischen Lebensraum wird erst gehandelt, dann wahrgenommen, was passiert und dann das Handeln wieder angepasst.
Ihr habt gerade eine große Werbekampagne gestartet, die Server in eurem Rechenzentrum laufen auf Hochtouren, um alle Kundenanfragen zu bewältigen. Es sieht gut aus! Die Nachfrage ist größer als erwartet, aber die Systeme schaffen die unerwartete Last. Plötzlich geht nichts mehr. Ein Bagger hat bei Straßenbauarbeiten das Kabel gekappt, mit dem Dein Unternehmen an das Internet angeschlossen ist! Für die Situation gibt es keinen Plan. Jetzt musst Du schnell handeln und einen Weg aus der Situation finden.
Paradigmenwechsel
Die beiden Lebensräume Einfach und Kompliziert im Cynefin Modell haben eines gemeinsam: Es gibt ein eindeutiges Richtig oder Falsch. Deshalb ist es auch möglich, den Herausforderungen dieser Lebensräume mit klassischen Methoden wie zum Beispiel detaillierten Planungen zu begegnen.
Ganz anders ist es in den Lebensräumen Komplex und Chaotisch: Dort gibt es nur unterschiedliche Abstufungen von Erfolg oder Misserfolg. Selbst wenn im Beispiel oben der Kunde Deinen Entwurf für seinen Laden akzeptiert hat, heißt das nicht, dass das "Richtig" ist. Vielleicht hätte es auch eine andere Lösung gegeben, die dem Kunden gefällt. Vielleicht hat er auch einen Deiner Entwürfe abgelehnt, der, wäre er umgesetzt worden, sogar erfolgreicher gewesen wäre, als der akzeptierte Entwurf. Der abgelehnte Entwurf war deshalb nicht falsch. Auch die Entscheidung des Kunden für den anderen Entwurf war nicht falsch. Denn niemand hätte mit Sicherheit sagen können, wie erfolgreich die unterschiedlichen Varianten sind.
Dieser Paradigmenwechsel zwischen Einfach-Kompliziert und Komplex-Chaotisch markiert auch den Übergang von klassischem Herangehen und agilen Handlungsweisen. Eine komplizierte Situation kann mit einiger Übung durchaus einfach werden. Schnürsenkel binden ist ein Beispiel dafür. Du findest das sicher einfach. Für ein kleines Kind ist das sehr kompliziert.
Eine komplexe Situation wird allerdings auch mit viel Übung niemals kompliziert. Mir wurde mal das Beispiel genannt ein Uhrwerk zu bauen sei komplex, wenn man es ohne Anleitung und das erste mal macht. Aber kompliziert, sobald man es einmal gelernt hat. Nur sind das zwei unterschiedliche Aufgaben: Ein Uhrwerk entwickeln und ein Uhrwerk bauen.
Agil vs. Klassisch
Inzwischen hast Du es vermutlich erkannt: Im einfach-komplizierten Lebensraum sind agile Methoden nicht besonders hilfreich. Sie kosten in der Regel nur unnötig Zeit und bringen in diesen Situationen keinen Mehrwert.
Umgekehrt sind komplizierte Methoden nicht geeignet, komplex-chaotische Probleme zu lösen. Wenn Du das Gefühl hast, Deinen klassischen Projektplan permanent an die Realität anpassen zu müssen, dann könnte das ein Indiz dafür sein, dass Du versuchst ein komplexes Problem kompliziert zu lösen. Das verursacht sehr viel unnötige Arbeit und wird nicht erfolgreich sein.
Die unbestimmte Mitte
In der Skizze oben durch ein Fragezeichen gekennzeichnet ist die unbestimmte Mitte. Der gefährlichste Zustand. Es bedeutet, dass Du noch nicht herausgefunden hast, mit welchem Lebensraum Du es zu tun hast. Das ist deshalb gefährlich, weil Du so nicht entscheiden kannst, welche Herangehensweise Du wählen solltest: Agil oder klassisch.
Tipp
Es gibt tatsächlich eine Ausnahme bei der eine agile Methode auch im komplizierten hilfreich ist. Die Retrospektive. Sie hat das Ziel aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen. Das ist ganz sicher auch im komplizierten Lebensraum hilfreich.
Heute habe ich mit der Idee aufgeräumt, dass agiles Arbeiten ein Allzweckmittel für jede Situation sein kann. Im nächsten Beitrag schreibe ich über den Umgang mit Fehlern. Sehr häufig wird behauptet, man solle das nicht so genau nehmen. 80:20 sei agil und somit wären ein paar Fehler gar nicht schlimm.
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Martin Zehle (Freitag, 07 Juni 2019 09:18)
Hi Thomas, bin jetzt schon gespannt auf den Artikel mit Fehlern. Hier schon mal etwas Futter: https://blog.crisp.se/2018/06/04/yassalsundman/fix-it-now-or-delete-it
BG,
Martin
Thomas Jorré (Freitag, 07 Juni 2019 15:20)
Hi Martin, wie schön, dass ich Dich neugierig machen konnte! Dein Link zielt in eine andere Richtung, als ich in meinem nächsten Artikel anpeilen werde. Aber Zero-Bug-Policy ist auf jeden Fall auch etwas Spannendes :-)
Schönes Wochenende!
Thomas